Eine Hilfe für motivierte Lehrende
MOOCs (Massive Open Online Courses) waren eine Zeit lang der Hype schlechthin und haben es auf so ziemlich jede E-Learning und Digitalkonferenz geschafft. Selbst weniger medienaffine Einrichtungen konnten sich auf einmal vorstellen, „so einen“ Onlinekurs mit Videos zu starten. Dabei wurde dann die Ursprungsidee oft verfälscht. Entweder fehlte das “massive” weil nur 20 Personen mitlernten oder der Kurs war gegen eine Gebühr abrufbar, was dem zweiten Begriff der Offenheit widersprach. Das Extrakt war letztlich oft nur noch das Element Video, welches online abrufbar war.
Dies alleine ist jedoch keine wirkliche Neuerung zum früheren Telekolleg. Wenn allein auf die Merkmale „zeitversetzt“, „überall verfügbar“ oder „jederzeit wiederholbar“ gesetzt wird, besteht die Gefahr, dass der Einsatz eines Videos keine bessere Lehre als ein unvorbereiteter, planloser Präsenzunterricht liefert.
Wer Videos produzieren möchte, sollte sich die passenden mediendidaktischen Modelle zunutze machen. So möchte ich in diesem Artikel gerne einige Gelingensbedingungen beschreiben, die für zukünftige Videoproduktionen in der Lehre interessant sein könnten.
Video als Problemlöser
Zunächst sollte man das zu erstellende Video einem Ziel unterordnen. Ein Video sollte kein Selbstzweck sein, sondern ein Problem lösen. Wenn die Lehre perfekt ist und alle eine 1+ mit Sternchen schreiben, dann sollte die/ der Lehrende maximal aus dem Grund Videos produzieren, dass durch man durch Onlinevideos mehr Lernende erreicht.
Eine problemorientierte Vorgehensweise wäre zum Beispiel, dass die/ der Lehrende beklagt, nicht genügend Zeit in ihrer/ seiner Präsenzveranstaltung zu haben, um mit den Studierenden in die Diskussion zu gehen, da der zu vermittelnde Stoff sehr umfangreich ist. Hier könnte man mit Hilfe von Videos gezielt eine Stoffvermittlung via Video umsetzen, um dann in der Präsenz mehr Zeit zu haben. Dieses Modell nennt sich dann auch Inverted Classroom Model.
Möchte man ein Video als “Selbstlernmaterial” erstellen, so ist es wichtig dabei strukturiert und mit einem Plan an die Videoproduktion zu gehen.
Nach der Problemstellung gilt es den Nutzen der Videos auch den Studierenden zu vermitteln.
Welche Vorteile bringen mir die zur Verfügung gestellten Videos?
Möchte man vor allem ein inhaltliches Interesse erzeugen?
Oder geht es darum, an das Vorwissen der Studierenden anzuknüpfen?
Dies kann natürlich, je nach Setting, schon vorab in Präsenz erfolgen.
Je heterogener hier die Studierenden sind, desto schwieriger wird es ein Video auf dieser Ebene bei den Studierenden wirken zu lassen. Klar, hätte das Zauberwort “klausurrelevant” eine sehr stark homogenisierende Wirkung, doch nicht jedes Fach ist am Ende mit einer Klausur zu beenden. Oft reicht die “aktive Teilnahme” zum Bestehen. Folglich ist es umso wichtiger aufzuzeigen, welche Kompetenzen hier vermittelt werden sollen und wie diese im gesamten Studium helfen können[1]. Die Lernziele müssen folglich klar benannt werden.
Parasoziale Beziehung als Dranbleiber-Effekt
Zwar werden Videos vor allem im Rahmen der gehypten MOOCs gern als Wunderwaffe für das individualisierte Lernen herangezogen, weil man ja jederzeit lernen kann und das Video stoppen und zurückspulen kann, wann immer man es möchte. Doch der Inhalt eines Videos ist so starr, wie die gedruckten Seiten eines Buches. Bei der Stoffvermittlung durch ein Video sind die dabei ablaufenden neurobiologischen Prozesse stärker, als beim Lesen eines Buches.
Wir nehmen beim Ansehen eines Videos nicht nur den zu vermittelnden Stoff wahr, sondern auch die menschliche Person die es vermittelt und die im Kameraausschnitt mitgelieferte Umgebung. Dessen muss man sich bei der Produktion von Videos immer bewusst sein und für sich nutzen.
Wenn Wahrnehmung also ein “hochaktiver, hypothesengesteuerter Interpretationsprozess” ist, “der das Wirrwarr der Sinnessignale nach ganz bestimmten Gesetzen ordnet und auf diese Weise die Objekte der Wahrnehmung definiert”[2], so gilt es bei der Produktion von Lehrvideos auf alle möglichen “Objekte” zu achten. Für unsere didaktischen Überlegungen reicht es zu wissen, dass unser Gehirn die von den Sinnesorganen kommenden Erregungen interpretiert[3]. Die dort eingehenden Reize werden verarbeitet und bewertet.
Schauen wir als Beispiel einmal auf die bereits oft zitierten Videos von Herrn Pichocki. In einem sehr puristischen Setting gibt es als Objekte zur Wahrnehmung nur die Lehrperson, das Geschriebene an der Tafel und die Tafel selbst. Herr Pichocki selbst ist seriös und schlicht gekleidet. Der
Betrachter des Videos hat folglich nur wenige Objekte, die er in seinem individuellen Wahrnehmungsprozess berücksichtigen muss. Die Wahrscheinlichkeit der Ablenkung ist daher sehr gering.
Das Soziale in den Videos ist die Lehrperson, die den Stoff klar verständlich und auch sympathisch vermitteln muss. Vor allem, wenn es um eine ganze Videoreihe geht, in der die Lernenden auch zum “Dranbleiben” motiviert werden sollen.
So haben Maik Beege et al. (2017)[4] das sozialpsychologische Phänomen der parasozialen Interaktion bzw. der parasozialen Beziehung, welches vor allem in der Medienpsychologie zum Einsatz kommt, unter dem Aspekt der Lernleistung untersucht. Erste Effekte konnten für die Items Orientierung und Nähe zur dozierenden Person festgestellt werden.
Man muss sich nur die Videos einiger YouTuber ansehen, um festzustellen, wie gezielt sie versuchen eine parasoziale Interaktion aufzubauen. Sie schauen direkt in die Kamera und sprechen die Zuschauenden direkt an und gehen auf Kommentare in vorausgegangenen Videos ein. Diese Aktionen schaffen mit der Zeit eine parasoziale Beziehung, die die Zuschauendenauch das nächste Video anzuschauen.
Die Hattie-Studie aus 2013 belegt, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung einen starken Effekt auf gute Lehre hat. So ist es nur logisch, auch bei der Erstellung von Lehrvideos den Versuch zu unternehmen, eine parasoziale Beziehung aufzubauen.
Wenn man nun als Dozierende/r eine Videoreihe plant und nicht nur seinen eigenen kleinen Kurs erreichen möchte, kann man mit Hilfe parasozialer Interaktion die Motivation der Studierenden steigern, sich auch die folgenden Videos anzusehen.
Frank Pichocki hat sich beispielsweise bei YouTubern einige parasoziale Interaktionen abgeguckt und so nicht nur seine Studierenden am Standort Dortmund erreicht, sondern Studierende der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in ganz Nordrhein-Westfalen.
Herr Pichocki siezte die Studierenden zwar, was aber seiner Art und der gängigen Praxis im Studiengang Polizei entsprach (Stichwort: Authentizität). Zudem begann er jedes Video mit den Worten „Hallo liebe Studierende, willkommen zum Strafrecht“ und schaute dabei direkt in die Kamera.
Berichten zufolge haben sich sowohl in Bielefeld, als auch in Köln Studierende alle damals verfügbaren 66 Folgen angesehen. Ein klares Indiz für eine gelungene parasoziale Interaktion und Beziehung. Auffällig war bei mehreren Stichproben in den verschiedensten Kursen in Köln und Bielefeld, dass sich besonders oft (männliche) Kommisaranwärter die Videos regelmäßig angeschaut haben. Ob dies jedoch mit dem medienpsychologischen Phänomen der parasozialen Beziehung zu tun hat oder generell auf das Lernmedium Video zurückzuführen ist, kann ohne eine wissenschaftliche Untersuchung nicht abschließend gesagt werden.
Nutzen klären
Als weitere Gelingensbedingung für gute Lernvideos sollte immer wieder der Nutzen des Videos geklärt werden. Denn Studierende sind nicht nur thematisch Interessierte Zuschauende, sondern fragen sich als homo oeconomicus (alla Min-Max-Prinzip) durchaus immer wieder, welchen Nutzen sie durch das Anschauen der Videos haben.
Mögliche Antworten sollten dabei so konkret wie möglich ausfallen und für die Studierenden greif- und begreifbar sein.
“Das hilft Ihnen eine bessere Klausur zu schreiben.”, wäre zum Beispiel sehr zeitnah und einleuchtend. Eine gute Begründung könnte auch ökonomische Wurzeln beim Zeiteinsatz des Lernenden haben: “Nach diesem Video, verstehen Sie die Selbststudientexte besser und schneller”.
Die Klärung des Nutzens kann dabei sehr individuell sein, je nach Thema und Rahmung.
Anknüpfungspunkte erleichtern das Verständnis
Als nächstes gilt es Anknüpfungspunkte zu suchen, die den Lernenden in Erinnerung bleiben. Wenn Sie ein Video erstellen, dann muss Ihnen klar sein, dass man hier die Möglichkeit hat, Informationen in sehr dichter Form zu vermitteln. Doch wenn es zu dicht und zu komplex wird, werden die Lernenden immer wieder zurückklicken müssen, um wirklich alle wesentlichen Aspekte zu erfassen. Wichtig ist es hier, sich das Medium zu Nutze zu machen und da, wo es möglich ist Beispiele zu geben und diese auch zu visualisieren. Oft muss man dann noch nicht mal aufwändig selbst in die Videoproduktion gehen, sondern kann bei Youtube einen Suchbegriff eingeben und nach Creative Commons filtern. So werden nur noch Videos angezeigt, die in der Regel auch wiederverwendet werden dürfen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Videos inhaltlich immer noch kritisch geprüft werden müssen.
Handlungen und Wissensüberprüfungen ermöglichen
Damit die Lernvideos nicht einfach nur “verkonsumiert” werden, ist es wichtig, auch neben dem Video eine Interaktionsebene zu schaffen. Hier können Lernende aus der passiven Rolle des Zuschauenden herausgeholt und zur Handlung gebracht werden. Hierbei muss allerdings zwischen Interaktionsmöglichkeiten und Interaktivität unterschieden werden. Während Interaktion “für die kommunikative, soziale Interaktion der Lernenden untereinander oder mit den Lehrenden”[5] steht, ist die Interaktivität der Begriff “für die manipulativen Handlungen des Benutzers”[6] mit dem Lernmedium “Video”.
Beides kann natürlich mit Hilfe der ILIAS Erweiterung “Interactive Video” umgesetzt werden. Hier sind Fragen und die Kommentarfunktion direkt mit dem Video verknüpft. Metzger und Schulmeister postulieren auch, dass die Interaktivität einen entscheidenden Unterschied für die Qualität des Lernens ausmacht. Jedoch sind auch zuvor gestellte Fragen oder Aufgaben denkbar, unter denen ein Video angesehen werden muss. So kann parallel zu den Videos auf Tests oder Übungen gesetzt werden, welche ebenfalls mit Hilfe von ILIAS erstellt werden können.
Videos als Weiterentwicklung des E-Learnings mit großem Potenzial
Videos im Internet sind durchaus eine Weiterentwicklung des E-Learning im Allgemeinen. Man darf aber nicht den Fehler machen und gescheitertes E-Learning einfach auf ein neues Medienelement übertragen, um dann zu hoffen, dass alles besser wird. Vielmehr geht es darum, sich das Medium Video genau anzusehen und die Möglichkeiten auszunutzen. Dazu müssen die Charakteristika (verdichtete Informationsquelle, visuelle Informationsquelle, parasoziale Beziehung) eines Videos berücksichtigt werden und dessen Möglichkeiten der Einbindung in Lern- und Videoplattformen berücksichtigt sowie genutzt werden.
Erschreckend an den Erkenntnissen zur Interaktivität ist, dass Sie bereits 2004 veröffentlicht wurden und wir selbst 14 Jahre danach in weiten Teilen oft nicht mehr als Leuchtturmprojekte vorzuweisen haben und die Potenziale des “Digitalen” in keiner Weise voll ausschöpfen.
Die Kernaussage von Arthur Andersen in einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung kann sogar 18 Jahre nach dessen Veröffentlichung so stehen bleiben.
Das Bildungsmaterial im virtuellen Raum nutzt die multimedialen Mehrwerte des Mediums nicht und produziert eine Medienmonotonie.[7]
Wenn weiter oben von einer Weiterentwicklung des E-Learnings die Rede ist, dann vor allem, weil die bereits 2003 aufgestellten Ebenen für das Gelingen mediengestützter Lernformen[8], mit Videos, auf anderen Ebenen wirken, als dies frühere Lernszenarien in einem Lernmanagementsystem getan haben. Erste E-Learning Ansätze wirkten vor allem auf der pädagogisch-didaktischen Ebene, bekamen aber bei allen anderen Ebenen – wie der soziokulturellen, der organisatorisch-administrativen, der ökonomischen und der technischen – kaum ein Bein auf den Boden. Auch wenn E-Learning auf den Ebenen der Technik und der Administration immer besser geworden ist (kaum noch Systemabstürze, immer bessere Features), scheint die Technik den soziokulturellen, technischen Standards immer noch hinterherzuhinken. Ebenso auf der ökonomischen Seite, sind Softwarelösungen von amerikanischen Großkonzernen oft schneller im Handling als ein Lernmanagementsystem. Mit Videos und Hochschulplattformen für Videos, wie bei uns an der FHöV NRW[9] wird eine Art “Hochschul-Youtube” angeboten, was vor allem die Studierenden kennen. Videos sind in der Sozialisation von heutigen Studierenden mehr als bekannt. Wer in diesem neuen Studienjahr 2018/19 als Studierende/r beginnt, kann sogar wie sonst bei Netflix gewohnt, “Binge-Watching” betreiben und beispielsweise fast 80 Videos zum Thema Strafrecht am Stück durchschauen. Da die Videos auch sofort auf allen mobilen Endgeräten laufen, ist man auch in Sachen Ökonomie ganz weit vorne. Aus Binge-Watching wird “Binge Learning”[10].
Wenn man es schafft, Videos zu produzieren, die die vorangegangenen Gelingensbedingungen berücksichtigen und an jugendlichen soziokulturellen Entwicklungen orientieren, dann können Videos in der Lehre nicht nur zu einem akzeptierten, sondern zu einem überdurchschnittlich beliebten Lerngegenstand werden. Dies verbessert unter dem Strich auch die Qualität der Lehre und führt so zu besseren Studienergebnissen.
[1] Vgl. Clement, Ute/Kräft, Klaus, Lernen organisieren – Medien, Module, Konzepte, 1. Auflage, Berlin, Heidelberg 2002.
[2] Singer, Wolf, Der Beobachter im Gehirn – Essays zur Hirnforschung, 1. Auflage, Frankfurt am Main 2002. S. 80.
[3] Roth, Gerhard, Das Gehirn und seine Wirklichkeit – Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, 6. Auflage, Frankfurt am Main 2001. S.249
[4] Beege, Maik/ Schneider, Sascha et al., Look into my eyes! Exploring the effect of addressing in educational videos, in: Learning and Instruction 49 (2017), S. 113-120.
[5] Metzger, Christiane/ Schulmeister, Rolf: Interaktivität im virtuellem Lernen am Beispiel von Lernprogrammen zur Deutschen Gebärdensprache, in: Mayer/Treichel (Hrsg.), Handlungsorientiertes Lernen und eLearning, München 2004, S. 265-297.
[6] ebenda
[7] Vgl. ebenda und die Studie ist hier abrufbar: https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/ew/bf/bf_veranstaltungen/ws04/V.1.Bildungsmanagement/V.2005.01.27.gesamtstudie_weiterbildungsmarkt.pdf [Abgerufen am: 08.08.2018]
[8] Seufert, S./ Euler D. (2003): Nachhaltigkeit von eLearning-Innovationen. https://www.zfhe.at/index.php/zfhe/article/view/187/314
[10] Sehr gut dazu ist das Statement von Andreas Wittke auf der Plattform des Hochschulforums Digitalisierung: https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/warum-e-learning-gescheitert-ist [Abgerufen am: 15.08.2018] “Wir müssen digitale Bildung neu denken, denn auch Vorlesungen von 90 Minuten und Kurslaufzeiten von einem Semester sind nicht notwendig. Ein Kurs ist so lange, wie er braucht um das Thema zu vermitteln. Das kann eine Woche sein oder ein Jahr. Warum kann ein zukünftiger Lerner nicht so lange etwas lernen, wie er Lust hat? Dank Netflix gibt es das Binge Watching, warum gibt es kein Binge Learning? Warum muss ein Lerner nach 90 Minuten Vorlesung aufhören sich mit dem Thema zu beschäftigen, wenn er gerade warm geworden ist, um dann ein völlig neues Thema vorgesetzt zu bekommen?
Bei digitalen OnDemand-Inhalten ist das möglich und wir erleben das heute schon, denn wenn man die Inhalte weit genug runterbricht (der Fachmann nennt das dann Mikrolearning oder Learning Objects), dann können wir das auch YouTube-Filmchen nennen. Denn wie man eine Fahrradkette wechselt oder einen Rollbraten kocht, kann ich schon heute OnDemand auf YouTube lernen, ganz ohne MOOCs oder eine Schule.”